Fußtour „Lebensmittel*Landwirtschaft*Essen in der Stadt“ – Imbiss-Kultur, urbane Gärten und Backhandwerk. Diskutiert werden Ernährungskonzepte in der Stadt und die damit verbundenen Arbeitsverhältnisse. / Gıda maddeleri*Tarım*Şehirde Yemek (yemek) – Dağıtım projesi, kollektifi ‚Schnittstelle‘ ile yürüyüş turu
…wird durchgeführt vom Vertriebskollektiv Schnittstelle.
Bei Stadt und Essen geht es auch um Themen wie 24-Stunden-Imbissbuden, urbane Gärten oder die Frage nach Bäckereikultur. Auch die Arbeitsverhältnisse, die daran geknüpft sind, werden in diesem Rundgang diskutiert: Wie kommt es, dass wir im Winter für die Schale Erdbeeren ’nur‘ 99 Cent bezahlen oder das Bio-Brot in der Supermarkt Filiale ‚lediglich‘ 3,50€ kostet? Und sind Biomärkte eher die Lösung oder ein Problem?
Die Tour „Essen in der Stadt“ wurde vom Schnittstelle-kollektiv organisiert. In meinen Wandelwoche-Touren war der Leiter dieser Tour der Erste, der ähnliche Spaziergänge schon früher organisiert hatte. Daher war die Struktur der Tour ganz nah am gewöhnlichen Stadtspaziergang. Das Ziel war nicht unterschiedliche Projekte zu besuchen, sondern Geschichte, Anekdoten und kritische Perspektiven rund um das Thema Lebensmittelproduktion und -verkauf in Kreuzberg zu erfahren und zu diskutieren.
Während bei den meisten Touren der Wandelwoche besonders viele verschiedene Blickwinkel auf ein Thema angesprochen werden und die Besucher*innen durch zahlreiche praktische Beispiele inspiriert werden, bestand der Fokus dieser Veranstaltung mehr in einem tiefer gehenden, analytischen Blick auf’s große Ganze und die gesellschaftlichen Probleme, die den Themen des Wandels zugrunde liegen. In der sehr interessanten Abschlussdiskussion mit der Schnittstelle wurde die Tour schön zusammengefasst und zahlreiche Alternativen angeprochen.
Das Thema Unsichtbare Massenproduktion und heftiger Kleinverkauf in der Stadt wurde am Ausgangspunkt der Tour (Kanal Ecke Planufer) angesprochen, wo der sogenannte „türkische Markt“ zweimal pro Woche stattfindet. Die Gentrifizierung des Kiezes kann man daran erkennen, dass auf dem ehemaligen „Billig-Markt“ immer mehr Qualitäts- und Bioprodukte verkauft werden. Billiges Gemüse vom Markt ist aus ethischen Gesichtspunkten ansonsten kaum eine bessere Wahl, als Supermarktware, da alles von ähnlichen Großhändlern stammt. Weitere lustige(?) und interessante Fakten, die wir hier nebenbei erfuhren waren zum Beispiel: In Wittenau steht Europas größte Tiefkühlpizzafabrik, die täglich mehr als ein Million Pizzas produziert. In Friedrichshain gab es einen Schlachthof, der ganz bald nach der Wende wieder geschlossen wurde, weil sich die Zugezogenen durch die nächtlichen Tierschreie gestört fühlten.
Im Anschluss passierten wir einen anderen, alten und winzigen Bauernmarkt, den Ökomarkt am Hohenstaufenplatz (Zickenplatz) in der Schönleinstraße, wo wir über die internationale Essenskulturen und Bäckereien in der Stadt sprachen – aber leider nicht mit einem Dönerverkäufer, was ich auf Basis der Vorankündigung eigentlich schon erwartet hatte. Die Dönerkultur und besonders die Preiskonkurrenz zwischen den Imbissen sollte man in jedem Fall kritisch betrachten: Beim Verkauf von 2€-Dönern – die ganze Nacht hindurch – können die Mitarbeiter*innen nicht mit gerechten Löhnen nach Hause gehen. Laut Tourleiter ist es häufig auch für die Kinder der Familien schwierig, einen anderen Beruf zu wählen.
Wir wurden darauf aufmerksam gemacht, dass es in Kreuzberg laut offiziellen Statistiken nur ein oder zwei handwerkliche Bäckereien gibt. Die Arbeit des Bäckers ist hart, und in Kreuzberg sind fast nur noch türkische Familien übrig, die den Beruf ausüben. Türkische Bäcker*innen, die ihre Ausbildung in den Familiengeschäften absolviert haben, haben aber große Schwierigkeiten bei der Zulassung durch die Handwerkskammer.
Ein weiteres Thema waren Biosupermärkte. Wir blieben am Kottbusser Damm zwischen einem der ersten Bioläden Berlins und der ehemaligen „Bio-Filiale“ des Edekas stehen. Beide haben mittlerweile den Konkurrenzkampf gegen die immer größer werdenden Biomarktketten verloren. Dennoch sieht der Tourleiter den wachsenden Marktanteil von Bio-zertifizierten Produkten hauptsächlich positiv, da dadurch immer mehr Felder unter Spritzverbot gestellt werden. Allzu große Zufriedenheit hinsichtlich ihrer nachhaltigen Lebensweise sollte sich bei Bioladen-Stammkund*innen dennoch nicht einstellen. Biosupermärkte stellen die Bauern unter den gleichen Druck, die Lohnkosten sowie die Produktvielfalt immer weiter zu reduzieren, denn die Marktstrategie der Bioläden besteht wie bei konventionellen Supermarktketten in der endlosen Steigerung der „Kosteneffektivität“. Trotz des Straßenlärms hätten wir an dieser Stelle gerne noch länger diskutiert.
Unter dem Credo „Für kürzere Produktionsketten und echte Beziehungen zwischen Start- und Zielpunkt des Essens“ kam die Tour der Schnittstelle zu ihrem Ende. Schnittstelle ist ein Kollektiv, das nachhaltig und gerecht produzierte Produkte für andere Kollektive in Berlin lagert und an diese vermittelt sowie Bildungsarbeit zu den Themen der Tour anbietet. Die Gruppengröße von (nur) elf Teilnehmenden ermöglichte Allen, in entspannter Atmosphäre ihre Fragen zu stellen. Deutlich mehr Personen hätten wohl aufgrund des Straßenlärms auch Probleme gehabt, die spannenden Berichte zu verfolgen. Am Ende blieben fast alle noch länger in der Schnittstelle zum Stöbern und Einkaufen.
Die abschließende Diskussion mündete in der Forderung des Tourleiters, die Beteiligung an größeren Kampagnen und Protestaktionen auszubauen, um der ungeregelten Wachstumsgier der Großunternehmen und ihrer Beschränkung auf private Profitmaximierung mit Lebensmitteln etwas entgegenzusetzen. Ohne Druck der Zivilgesellschaft wird sich hier höchstwahrscheinlich nichts ändern.
Die Projekte sind kartiert und beschrieben auf imwandel.net: http://berlin.imwandel.net/seite/schnittstelle-vertriebskollektiv/